Predigten von Dr. Helmut Karl Ulshöfer, Pfarrer

Predigten zum Ende des Kirchenjahres

Erntedank 1989

Matthäus 6,19-23

Der Besuch (bei) der alten Dame

Volkstrauertag 1989

Psalm 126

Trauer ist unteilbar

Volkstrauertag 2003

Matthäus 25,31-46

Der Höchste und die Geringsten

Vorletzter Sonntag des Kirchenjahres 2009

Matthäus 25, 31-46

Christus ist hungrig, schutzlos, krank …

Ewigkeits-Sonntag 1989

Markus 13,28-37

Ende der Steinzeit – lasst Blumen sprechen

 

Erntedank 1989 - Matthäus 6,19-23


19 Ihr sollt euch nicht Schätze sammeln auf Erden, wo sie die Motten und der Rost fressen und wo die Diebe einbrechen und stehlen. 20 Sammelt euch aber Schätze im Himmel, wo sie weder Motten noch Rost fressen und wo die Diebe nicht einbrechen und stehlen. 21 Denn wo dein Schatz ist, da ist auch dein Herz.
22 Das Auge ist das Licht des Leibes. Wenn dein Auge lauter ist, so wird dein ganzer Leib licht sein. 23 Wenn aber dein Auge böse ist, so wird dein ganzer Leib finster sein. Wenn nun das Licht, das in dir ist, Finsternis ist, wie groß wird dann die Finsternis sein!

Mitten in einer ganz normalen Woche
habe ich etwas absolut Außergewöhnliches erlebt.
Dabei fing alles so gewöhnlich an:
Ich wollte einen Besuch machen, den ich schon länger vorhatte
 bei einer älteren Dame, schon über 80
und vom Schicksal wahrlich nicht verwöhnt.
Wir sprachen über dieses und jenes
und völlig unerwartet verriet sie mir,
dass sie ein paar Gedichte geschrieben habe.
Ob ich die hören wolle.
Alt, krank und viel allein -
und Gedichte schreiben!!??
Ich war erstaunt und wohl auch ein wenig hilflos,
so hilflos wie man eben ist,
wenn ganz und gar Unerwartetes passiert.
Aber neugierig war ich.

Und dann hörte ich drei Gedichte,
die wohl Schmerzen und Alleinsein nicht leugneten,
die aber so voll Freude an Gottes Schöpfung waren.
Die alte Dame freute sich über den grünen Wald,
obwohl sie nur noch selten dorthin gehen kann.
Aber vom Fenster aus kann sie ihn sehen.
Voller Staunen beschrieb sie die Weite des Himmelszeltes
und die unzähligen Sterne.

Ja, das Auge ist das Licht des Leibes, sagt Jesus.
Und wenn dein Auge sehen kann, echt sehen kann
dann wird deine ganze Person,
und das ist mit Leib gemeint,
dann wird deine ganze Person sehend, durchscheinend, transparent, klar - eben Licht.
Dann siehst Du nicht nur, was ins Auge springt, was sich aufdrängt - und das ist ja meist das Dunkle und Leidvolle,
dann siehst Du auch das Wunderschöne, das Geschenkte,
dann siehst Du nicht nur das Vordergründige,
sondern auch das Verborgene,
siehst, dass Gott sogar aus dem Miesesten Gutes machen kann,
lernst sehen wie unsere dichtende alte Dame:
Nicht nur die wehen Beine,
sondern auch Blumen und Bäume,
nicht nur die Menschen so ferne,
nein, auch am Himmel die Sterne.
(Sie merken, die alte Dame hat mich angesteckt)

Wenn dein Auge nicht böse, nicht krank ist,
dann siehst Du heute im Altarraum
nicht nur irgendwelche Früchte, die Menschen mit viel Mühe gepflegt und geerntet haben,
sondern auch die schöpferische Macht unseres Gottes,
denn " Wachstum und Gedeihen steht in des Herren Hand"
Dann kommentierst nicht nur lobend die Kreativität derer,
die die Kirche gestern geschmückt haben,
sondern staunst neu über den wahrlich farbenfrohen Gott,
der Tomaten rot,
und Trauben grün, gelb und blau werden lässt.
Und auch Du selbst bist sein Geschöpf,
nicht lustlos gemacht,
sondern mit Lust und Freude von Gott selbst geschaffen,
bist nicht NR. 1415538208538 einer Fertigungsserie,
nein, Du bist einmalig, gewollt und farbig.
Selig, wer sich selbst und andere mit solchen Augen sehen lernt!
Wenn Dein Auge Licht ist, wird deine ganze Person Licht sein
Wie reich bist Du, wenn Du so sehen lernst.
Damit sind wir bei dem, was Jesus noch anspricht:
Reichtum, Schätze.
Und auch hier kommt's auf die Augen an:
Was macht dich reich? Wie siehst Du das?
Da gibt es Schätze auf Erden und Schätze im Himmel,
sagt Jesus.
Nicht alle Schätze machen reich,
manche sind gefährdet, durch Motten, Rost und Diebe,
und sie gefährden ihre Besitzer,
denn wo Dein Schatz ist, ist auch Dein Herz.
Wenn Dein Schatz zerstört wird, der Schatz an dem Dein Herz hängt,
was geschieht dann mit Dir,
wirst Du mitzerstört?
Wer sich an Gefährdetes hängt, ist selbst gefährdet.
Wenn Du Deine Zukunft sichern willst mit Vergänglichem,
wie unsicher muss doch Deine Zukunft sein.
Der Schock von Inflation und Währungsreform nach dem Krieg hat die meisten unter uns noch mehr ins Materielle getrieben,
Armut und Entbehrungen in dieser Zeit haben dasselbe bewirkt.

Aber ist das eine vernünftige Konsequenz,
sich verzweifelt noch mehr an das zu hängen,
was sich als absolut unzuverlässig erwiesen hat?
Und eigenartigerweise rühmt jeder jene Zeit der Armut
als eine Zeit des Reichtums:
Reichtum an Menschlichkeit, Opferbereitschaft und Solidarität.
Sind nicht das die Schätze des Himmels?
Fast jeder, der jene Zeit bewusst miterlebt hat,
spricht von diesem eigenartigen Kontrast von materieller Armut und innerem Reichtum damals
und materiellem Reichtum und innerer Armut heute.
Wie furchtbar enttäuscht werden viele DDR-Flüchtlinge
innerhalb kürzester Zeit sein,
wenn sie unsere bedrückende Armut mitten im Reichtum
hautnah zu spüren bekommen.

Jeder weiß: Man kann im Reichtum verarmen am ganzen Menschen,
aber haben wir die Phantasie, den Willen und die Kraft,
unser Leben bereichernde Schlüsse daraus zu ziehen?
Wenn gestapelter Reichtum offensichtlich nicht reicher macht,
wenn Flucht in die Sachwerte keine wohltuende Zuflucht bietet
und wenn das Hypnotisiertsein vom Haben
 das Sein nicht sinnvoller macht,
wenn all die Schätze auf Erden
uns den Blick auf die Schätze im Himmel versperren,
was tun?
Liebe Gemeinde, hier an dieser Stelle habe ich mich in der Vorbereitung unheimlich lange abgequält.
Da lief nichts mehr:
Was tun, wenn man ahnt, dass das Herz gefährdet ist
durch vergängliche und gefährdete Dinge.
Was tun, wenn man weiß, dass alles Sicherheitsstreben
aus der Angst geboren ist und immer wieder Angst zeugt?
Was tun, wenn man anfängt zu spüren,
dass Erntedank verkommt zur traditionellen Pflichtübung,
aber der Herz dem Schöpfer gegenüber stumm bleibt,
wenn Dankbarkeit nur noch verkopft läuft,
so nach dem Motto: Ja, mer sollt' eigentlich dankbar sein.
Was tun, wenn man fürchtet,
die Annehmlichkeiten unseres modernen Lebens nicht mehr zu besitzen, sondern von ihnen besessen zu sein?
Was tun und was als Prediger sagen,
wenn alles darauf hinweist, dass Jesus recht hat?

Überzogene Appelle, die kurzfristig aufpeitschen
um einem bald wieder frustriert zur Tagesordnung übergehen lassen?
Oder das pseudo-solidarische Geschwätz:
Wir sind halt alle miteinander arme Stinker und Sünder?
Beides widert mich an,
weil beides das Beklagte letztlich zementiert.
Was sagen, was tun, wenn Jesu Worte wahr sind,
wenn er recht hat?

Ich konnte letzten Endes nichts anderes tun,
als ihm Recht geben.
Ich muss ihm Recht geben,
gegen mich selbst:
Ja, ich verarme, wenn ich Schätze auf Erden ansammle
und Schätze im Himmel für mich ein Fremdwort sind.
Jesus hat Recht.
Es ist die einzige Lösung, die ich für mich finden konnte.
Jesus hat Recht:
Ganz finster wird's in mir und um mich,
wenn mein Auge nur am Plunder sich festmacht.
Du hast Recht, Jesus,
und die Werbung lügt.
Mein Leben wird nicht reicher und freier unter dem Konsumzwang - ich werde ausgebeutet, nicht beschenkt.
Du hast Recht, Jesus,
und gestapelte Sicherheiten trügen.

Bei jedem Tod eines lieben Menschen
nehme ich mir's immer wieder vor:
Ab jetzt stehen Menschen über Sachen,
ab jetzt gilt Liebe mehr als Macht und Einfluss
ab jetzt gehen Beziehungen vor Produkten,
und dann ist das Leben für ein paar Wochen tatsächlich reicher
aber bald wird mein Auge wieder krank,
macht sich an Zweitwichtigem fest
und die innere Armut greift wieder um sich
und der lebendige Gott verkommt wieder
zum Lückenbüßer oder zum Verschönerer meiner Lebensränder
anstatt die schöpferische Mitte meines Lebens zu sein.
Ich gebe Jesus Recht,
und ich hab Unrecht mit meiner Lebenspraxis,
mit der Art meines Sehens
mit dem Gefangensein meines Herzens.

Es bleibt mir ehrlich nicht anders übrig,
als zu sagen: Jesus hat Recht
Ich kann mir gut vorstellen,
dass jetzt einige unter Ihnen unzufrieden sind:
Da hätte der Pfarrer aber mehr rausholen
können aus diesem Predigttext,
hätte konkreter und hilfreicher werden können,
hätte besser auf Erntedank einstimmen können.

Ein Trost bleibt mir,
in meiner eigenen Unzufriedenheit über mich selbst:
Wenn ich Jesus recht gebe,
dann ist er mein Herr.
Und er selbst sagt:
Keiner kann zwei Herren dienen,
keiner kann Gott dienen und dem Mammon.
Beides geht einfach nicht.
Wenn ich ihm Recht gebe, ist er mein Herr,
und nicht der Besitz.
Liegt da der Beginn von Freiheit für die echten Schätze?
Wenn er Herr ist, weil ich ihm zu recht Recht gebe,
wird er mich auch zurechtbringen,
mir die Augen öffnen, mein Herz lösen und neu festmachen.
Zu dieser Hoffnung möchte ich Sie einladen:
Wer ihm Recht gibt, den bringt er zurecht.
Wer vor ihm arm wird, den macht er reich.
Amen

 

 

Ansprache zum Volkstrauertag 1989

Psalm 126

Liebe ökum. Gemeinde am Volkstrauertag,
Trauer ist unteilbar
Das ist das eigentliche Thema des lesenswerten Artikels
von Peter Huber-Ebert und den aussagekräftigen Fotos
von Hans-Peter Safranek in der gestrigen Ausgabe der Bruchsaler Rundschau.
Trauer ist unteilbar.
In diesem Artikel wird nicht mehr unterschieden zwischen
Soldaten und Zivilbevölkerung
nicht mehr ein Trennstrich gezogen
zwischen unseren und anderen Soldaten,
nicht mehr Trauer eingeengt durch Ländergrenzen und Ideologien.
Nein, auch der letzte russische Kriegsgefangene des 2.WK in Bruchsal,
ein 20-jähriger 1919 an Hungertyphus oder Grippe gestorben,
auch er wird miteinbezogen,
auch er war wie unsere vielen Gefallenen und Vermissten
der Sohn einer liebenden Mutter,
ein Mensch, der leben und lieben wollte,
ein Mensch, der etwas zu geben hatte,
ein Mensch, den der Krieg in seinen Hoffnungen und Möglichkeiten so grausam zerstörte.

Trauer ist unteilbar, weil Leben, echtes Leben unteilbar ist.
Diese Überzeugung wird lebendiger - das lässt hoffen.
Es findet also bei manchen Menschen so etwas statt wie
eine Wiedervereinigung von Trauer.
Was willkürlich getrennt wurde durch Ländergrenzen und Gesellschaftsschicht,T,
das erlebt bei manchem denkenden und mitfühlenden Zeitgenossen heute eine Wiedervereinigung:
Wir trauern um Menschen.
Das schließt natürlich keineswegs einen tieferen Schmerz aus,
wenn Einzelne unter uns an Verwandte oder Bekannte denken,
die an der Front oder auch am 1. März 1945 umkamen.
Denn so wie Leben und Liebe zwar unteilbar,
aber verschieden intensiv sein können,
so lässt auch die unteilbare Trauer verschiedene Grade der Tiefe zu.
Doch wer sich mithineinnehmen lässt in eine Trauer,
die aus der Liebe zu allem Lebenden kommt,
der kommt auch aus seiner je eigenen Trauer
lebensbejahender und getrösteter wieder heraus.
Denn er erfährt dann nicht nur die Unteilbarkeit der Trauer,
sondern auch die übergreifende Lebendigkeit des Trostes.

Das will wohl unser Glaube darin ausdrücken,
dass das Kreuz, eigentlich ein Symbol für Tod und Zerstörung
für Christen zu einem Zeichen von Hoffnung und Neuanfang geworden ist.
Da hing der Hoffnungsträger Jesus Christus am Kreuz,
scheinbar gescheitert - alles aus.
Doch der Ostermorgen lässt das Kreuz
in einem andern Licht erscheinen:
Der Tod ist verschlungen in den Sieg,
Tod wo ist dein Stachel,
Hölle, wo ist dein Sieg.
Nur in diesem Licht können wir getrost und getröstet
die vielen Kreuze hier um uns herum aushalten.

Wir alle haben es in den letzten Tagen erlebt,
wie Hoffnung wieder aufflackern kann,
wo man nur noch Asche, aber keine Glut mehr vermutete.
Aber jenseits dieser leidvollen Mauer
glomm noch der Funke von Hoffnung,
der bei den meisten unter uns erloschen war.
Deutsche zu beiden Seiten der Mauer
litten unter geteilten Hoffnungen:
Viele hofften nur noch für sich,
wir hier für uns
unsere Brüder und Schwestern in der DDR für sich.
Aber wie Trauer, so ist auch Hoffnung letztlich unteilbar.
Hoffnung ist unteilbar, weil Zukunft unteilbar ist.

Und so erfahren wir in diesen Tagen
so etwas wie eine Wiedervereinigung von Hoffnung
Es ist wie vor 2 1/2 tausend Jahren bei den Verschleppten
im babylonischen Exil:
Sie sangen im 126. Psalm:
Wenn der Herr die Gefangenen Zions erlösen wird,
dann werden wir sein wie die Träumenden.
Wie Träumende sehen auch wir heute neue Perspektiven,
Aussichten, die noch vor Wochen verbaut waren,
Möglichkeiten, die wir im Bereich des Unmöglichen wähnten.

Wichtig wäre, dass wir uns freuen über die geschehende Wiedervereinigung von Hoffnungen,
dass wir uns aber hüten,
Hoffnung auf Wiedervereinigung unbedacht zu nähren.
Wichtig ist, dass die Wiedervereinigung der Hoffnung auf Frieden ein lebendiger Prozeß bleibt.
Ob eine Hoffnung auf Wiedervereinigung dem Frieden dient
muss sorgfältig bedacht werden.

So stehen wir heute hier,
angerührt von einer solidarischen
Wiedervereinigung der Trauer
und beflügelt von einer Wiedervereinigung der Hoffnung.
Wir stehen als Trauernde an Gräbern
und glauben an das Leben.
Wir stehen als Glaubende vor Mauern
und glauben an Begegnung.
Wir stehen als Hoffende vor einer offenen Zukunft
und glauben, dass der barmherzige Gott
uns in Ost und West in seinen Händen hält

 

Volkstrauertag 2003

Matthäus 25, 31-46

31 Wenn aber der Menschensohn kommen wird in seiner Herrlichkeit und alle Engel mit ihm, dann wird er sitzen auf dem Thron seiner Herrlichkeit, 32 und alle Völker werden vor ihm versammelt werden. Und er wird sie voneinander scheiden, wie ein Hirt die Schafe von den Böcken scheidet, 33 und wird die Schafe zu seiner Rechten stellen und die Böcke zur Linken.
34 Da wird dann der König sagen zu denen zu seiner Rechten: Kommt her, ihr Gesegneten meines Vaters, ererbt das Reich, das euch bereitet ist von Anbeginn der Welt! 35 Denn ich bin hungrig gewesen und ihr habt mir zu essen gegeben. Ich bin durstig gewesen und ihr habt mir zu trinken gegeben. Ich bin ein Fremder gewesen und ihr habt mich aufgenommen. 36 Ich bin nackt gewesen und ihr habt mich gekleidet. Ich bin krank gewesen und ihr habt mich besucht. Ich bin im Gefängnis gewesen und ihr seid zu mir gekommen.
37 Dann werden ihm die Gerechten antworten und sagen: Herr, wann haben wir dich hungrig gesehen und haben dir zu essen gegeben, oder durstig und haben dir zu trinken gegeben? 38 Wann haben wir dich als Fremden gesehen und haben dich aufgenommen, oder nackt und haben dich gekleidet? 39 Wann haben wir dich krank oder im Gefängnis gesehen und sind zu dir gekommen? 40 Und der König wird antworten und zu ihnen sagen: Wahrlich, ich sage euch: Was ihr getan habt einem von diesen meinen geringsten Brüdern, das habt ihr mir getan.
41 Dann wird er auch sagen zu denen zur Linken: Geht weg von mir, ihr Verfluchten, in das ewige Feuer, das bereitet ist dem Teufel und seinen Engeln! 42 Denn ich bin hungrig gewesen und ihr habt mir nicht zu essen gegeben. Ich bin durstig gewesen und ihr habt mir nicht zu trinken gegeben. 43 Ich bin ein Fremder gewesen und ihr habt mich nicht aufgenommen. Ich bin nackt gewesen und ihr habt mich nicht gekleidet. Ich bin krank und im Gefängnis gewesen und ihr habt mich nicht besucht.
44 Dann werden sie ihm auch antworten und sagen: Herr, wann haben wir dich hungrig oder durstig gesehen oder als Fremden oder nackt oder krank oder im Gefängnis und haben dir nicht gedient? 45 Dann wird er ihnen antworten und sagen: Wahrlich, ich sage euch: Was ihr nicht getan habt einem von diesen Geringsten, das habt ihr mir auch nicht getan. 46 Und sie werden hingehen: diese zur ewigen Strafe, aber die Gerechten in das ewige Leben.

 

Liebe Gemeinde,
was der himmlische König, der unbestechliche Richter tut
wenn er die allerletzte Bilanz zieht,
ist für alle Beteiligten eine wundersame Überraschung:
Er verleiht seine königliche Würde denen,
die weit weg vom Zentrum menschlicher Wichtigkeit sind,
an die ganz unten an der Leiter des Erfolgs
und an die, die man gern vergisst, weil man die eh vergessen kann.
Ihr Hungrigen, wer euch speist, speist den König
Ihr Durstigen, wer euch zu trinken gibt, erfrischt den König
Ihr Fremden, wer euch Heimat gibt, beherbergt den König
Ihr Schutzlosen, wer euch schützt, schützt den König
Ihr Kranken und Gefangenen, wer euch besucht,
hat es mit dem König zu tun.

„Was ihr einem dieser Geringsten getan habt, das habt ihr mir getan“
Nun sind die Geringsten nicht mehr klein und unwichtig.
Der König hat sie geadelt durch seine Identifikation,
hat ihnen seine Würde zugesprochen.
Es gilt bis zum Ende der Tage:
Wer immer einem der bedürftigen Geringsten helfen will,
hat es mit Würdenträgern zu tun, nicht mit Almosenempfängern,
nicht mit Objekten unserer Mildtätigkeit, nicht mit Sozialfällen,
sondern mit solchen, die der Weltenrichter geadelt hat,
als er sagte:
Diese Geringsten sind meine Leute, so wichtig und würdevoll wie ich
wörtlich: meine kleinsten Brüder, aber eben Brüder des Königs.

Daher gilt aber auch:
Wer diesen so Geadelten ihre Würde beeinträchtigt,
der bekommt es mit dem König zu tun, dem König der Könige,
dem Herrn aller Herren.
Alles, was ihre Würde verletzt, verletzt den König.

Meist wird ihre Würde verletzt,
indem man sie ignoriert, übersieht, links liegen lässt.
Man hat keine Ahnung,
dass sie Verwandte des königlichen Weltenrichters sind.
Ihr Schicksal ist einem zwar nicht egal,
man zeigt die heute so chic gewordene Betroffenheit,
das Herz aber bleibt kalt und die Hände weiter geschäftig –
in der Selbstbedienung.
Nicht wahrnehmen, nicht ernst nehmen,
das sind hässlichste Haltungen,  Würde wird gekränkt.

Paradoxerweise kann man die Würde der Geringsten
aber auch mit tatkräftiger Hilfe empfindlich verletzen –
und damit den König.
Nehmen Sie mal an, ich würde das tun, was Abertausende von Predigern über die Jahrhunderte mit diesem Bibeltext getan haben:
Ich würde eine Predigt vom Stapel lassen,
die gekonnt und mit Wirkung Ihr schlechtes Gewissen aufmischt
und Sie aus Angst vor ewiger Hölle aktiv werden ließe.
Sie würden noch heute Nachmittag
großzügige Überweisungen an „Brot für die Welt“ ausstellen,
im Alten- und Pflegeheim mehrere Besuche machen,
nach Adelsheim fahren und einen Knacki in der JVZA besuchen
und/oder im Internet einer Hilfsorganisation für Asylanten beitreten.
So eine Predigt hätte doch endlich mal etwas bewirkt, oder nicht?
Mag sein, aber eins wäre traurig:
Hungrige, Alte, Fremde und Gefangene wären degradiert
zu nützlichen Idioten, die vor der Hölle bewahren und in den Himmel bringen oder unser schlechtes Gewissen beruhigen sollen.
Werden die geringsten Brüder des Königs so ausgenutzt,
ist ihre Würde und die ihres hohen Verwandten nicht ernst genommen.
Sie würden ausgenutzt als Sprossen auf der Leiter zum Himmel -
auf die man treten kann.
Ihren Wert hätten sie nur in ihrer Nützlichkeit.
Sie wären nützlich für meinen frommen Egoismus nach dem Motto:
Hauptsache, ICH komme weiter – und wenn sie mir dabei helfen, ok!
Unvorstellbar, dass das im Sinne des königlichen Weltenrichters wäre.

Genau! Das sage ich ja schon lange, meint der aufmerksame Zuhörer.
Und hat eine patente Rechtfertigung für sein Nichtstun.
Ob der königliche Jesus das bewirken wollte?

Eins hat sich jetzt herauskristallisiert:
In der Geschichte vom Weltenrichter geht’s nicht um Ethik,
sondern um den Glauben.
Es geht nicht vorrangig ums rechte Tun,
sondern um das rechte Sehen:
Siehst du im schwachen und verwirrten Alten die Würde des Königs?
Siehst du Jesus im Kind mit dem aufgeblähten Hungerbauch?
Ahnst du die Gegenwart Jesu
im drogenabhängigen Gefangenen in Adelsheim?

Manche von Ihnen denken vielleicht:
Jetzt dreht er völlig durch da vorne.
Was haben denn straffällige Kokser und Junkies mit Jesus zu tun?
Ich würde ja auch spontan sagen: Nix, außer dass sie Jesus brauchen.
Aber Glauben heißt ja, verstehen lernen, was Jesus sagt
und nicht, was wir in unserer gut gemeinten und selbst gestrickten Rechtschaffenheit schon ewige Zeiten für wahr halten.
Und dieser Jesus sagt nun überdeutlich:
Über euren Himmel und eure Hölle entscheidet,
ob ihr mich im Gefängnis besucht oder nicht besucht habt.
Und wenn der erstaunte Ausruf kommt:
Wann und wo haben wir dich besucht oder nicht besucht,
du warst ja gar nie im Gefängnis, dann kriegen sie zur Antwort:
Wenn ihr einen dieser Geringsten besucht habt, dann wart ihr bei mir.

Glauben Sie im Ernst, Jesus wollte eigentlich sagen:
Wenn ihr einen unschuldig Inhaftierten besucht habt,
dann habt ihr mich besucht? Im Ernst?

Also, ernsthaft, jeder darf ja seine Meinung sagen:
Ich bin mir ziemlich sicher, dass Jesus an alle Gefangenen dachte,
nicht nur die Unschuldigen.
Dadurch mischt er unsere Vorurteile und Verurteilungen auf,
dass frischer Wind in die miefigen, frommen Gewölbe kommt.
Das passt zu ihm, diesem wunderbaren Menschen,
der in keine Schubladen passt,
sich von keinem vereinnahmen lässt und
Liebe ganz neu definiert.

Aber jetzt kann ich so richtig ahnen, wie Sie fragen:
Warum muss der Pfarrer auch gerade die Gefangenen herausgreifen?
Warum reitet er drauf herum, dass in Ihnen uns Jesus begegnet,
dass gerade Ihnen diese Würde des Königs zugesprochen wird?
Warum kann er nicht die süße Oma im Pflegeheim
 als Beispiel nehmen?
Da hätte man’s doch wesentlich leichter,
in ihr die Würde Jesu zu sehen.

Ja, leichter hätte man’s garantiert,
aber könnten wir sicher sein,  Jesus in ihr zu sehen,
und nicht einfach einen netten Menschen?
Jetzt wird’s wirklich schwierig, bitte, am Ball  bleiben!
Schauen Sie, Jesus sagt doch nicht:
Wenn Ihr 24 Omas und 9 Knastbrüder besucht habt,
und wenn ihr anderen Schutz und Nahrung gegeben habt,
dann kommt ihr in den Himmel. Sagt er nicht!
Sondern: Wenn ihr mich besucht habt,
mir Nahrung , Schutz und Heimat gegeben habt,
dann seid ihr die Gesegneten meines Vaters, ererbt das Reich!
Das passt auch zu den anderen Aussagen des NT:
Entscheidend für unsere Ewigkeit, für unsere Zukunft bei Gott,
ist unsere Einstellung zu Jesus. Ihn hat Gott zum Prüfstein,
zum alles entscheidenden Weltenrichter gemacht.

Und jetzt dran bleiben und nicht feige ausbüchsen nach dem Motto:
Aber was passiert mit denen, die von Jesus gar nix gehört haben.
Mach dir keine Sorgen um sie, sondern eher um dich!
Willst du in die Sehschule des Glaubens gehen und lernen,
wo du Jesus und in ihm Gott findest?
Du klagst doch immer, dass man von Gott so wenig spürt,
dass er versteckt bleibt, dass er einem allein lässt.

Willst du zu den Gesegneten des Vaters gehören?
Dann stille den Hunger Jesu, lösche seinen Durst,
gib ihm Heimat, kleide ihn und lass ihn nicht im Stich.
Was sagt Jesus zu?
Kommt her, ihr Gesegneten meines Vaters, ererbt das Reich, das euch bereitet ist von Anbeginn der Welt!
                                                 Das ist das Urteil!
Und die Begründung?
35 Denn ich bin hungrig gewesen und ihr habt mir zu essen gegeben. Ich bin durstig gewesen und ihr habt mir zu trinken gegeben. Ich bin ein Fremder gewesen und ihr habt mich aufgenommen. 36 Ich bin nackt gewesen und ihr habt mich gekleidet. Ich bin krank gewesen und ihr habt mich besucht. Ich bin im Gefängnis gewesen und ihr seid zu mir gekommen.
 Was ihm getan wird, entscheidet!
Also noch mal: Kein Aktionismus,
sondern nachdenklich sehen lernen.
Nicht Bedürftigenhilfe abhaken,
sondern die Würde Jesu im Bedürftigen entdecken.
Taten und Worte können Sie sich antrainieren,
allerdings auch einem Schimpansen,
dass er sich ans Krankenbett setzt
oder einem Papagei, dass er „Ich liebe dich!“ krächzt.

Aber Menschen
und in ihnen die Würde des göttlichen Königs sehen lernen,
das ist nicht so einfach machbar,
sondern eröffnet eine neue Perspektive in liebevoller Nachdenklichkeit.
Sehen Sie, das ist es,
was ich an unserem christlichen Glauben so mag:
Er lebt in der weisen Gewissheit,
dass wenn man Gott sucht, wirklich sucht,
man den Menschen entdeckt
und wenn man Menschen wirklich nahe sein will,
man in Gottes wohltuende Nähe gerät.
Und vielleicht entdeckst du dich dann selbst unter den Geringsten:
In deinem Hunger nach Liebe, deinem Durst nach Leben,
deiner Fremdheit und Schutzlosigkeit in dieser Welt,
deiner Krankheit und deiner Unfreiheit.
Dann bist du wahrhaft
In bester menschlicher und göttlicher Gesellschaft.
Amen

 

Vorletzter Sonntag im Kirchenjahr 2009

Mt. 25, 31-46

Anruf – Sekretärin des Dekanats bittet um Vertretungsdienst;
sie weiß dass ich in O’schüpf „daheim bin“
Pfarramtskalender aufschlagen: Welcher Bibeltext ist vorgegeben
für den vorletzten Sonntag des KJ – Spannung
Ich ahne: Mt. 25, 31-46
So ist es und ich lese:
31 Wenn aber der Menschensohn kommen wird in seiner Herrlichkeit und alle Engel mit ihm, dann wird er sitzen auf dem Thron seiner Herrlichkeit, 32 und alle Völker werden vor ihm versammelt werden. Und er wird sie voneinander scheiden, wie ein Hirt die Schafe von den Böcken scheidet, 33 und wird die Schafe zu seiner Rechten stellen und die Böcke zur Linken.
34 Da wird dann der König sagen zu denen zu seiner Rechten: Kommt her, ihr Gesegneten meines Vaters, ererbt das Reich, das euch bereitet ist von Anbeginn der Welt! 35 Denn ich bin hungrig gewesen und ihr habt mir zu essen gegeben. Ich bin durstig gewesen und ihr habt mir zu trinken gegeben. Ich bin ein Fremder gewesen und ihr habt mich aufgenommen. 36 Ich bin nackt gewesen und ihr habt mich gekleidet. Ich bin krank gewesen und ihr habt mich besucht. Ich bin im Gefängnis gewesen und ihr seid zu mir gekommen.
37 Dann werden ihm die Gerechten antworten und sagen: Herr, wann haben wir dich hungrig gesehen und haben dir zu essen gegeben, oder durstig und haben dir zu trinken gegeben? 38 Wann haben wir dich als Fremden gesehen und haben dich aufgenommen, oder nackt und haben dich gekleidet? 39 Wann haben wir dich krank oder im Gefängnis gesehen und sind zu dir gekommen? 40 Und der König wird antworten und zu ihnen sagen: Wahrlich, ich sage euch: Was ihr getan habt einem von diesen meinen geringsten Brüdern, das habt ihr mir getan.
41 Dann wird er auch sagen zu denen zur Linken: Geht weg von mir, ihr Verfluchten, in das ewige Feuer, das bereitet ist dem Teufel und seinen Engeln! 42 Denn ich bin hungrig gewesen und ihr habt mir nicht zu essen gegeben. Ich bin durstig gewesen und ihr habt mir nicht zu trinken gegeben. 43 Ich bin ein Fremder gewesen und ihr habt mich nicht aufgenommen. Ich bin nackt gewesen und ihr habt mich nicht gekleidet. Ich bin krank und im Gefängnis gewesen und ihr habt mich nicht besucht.
44 Dann werden sie ihm auch antworten und sagen: Herr, wann haben wir dich hungrig oder durstig gesehen oder als Fremden oder nackt oder krank oder im Gefängnis und haben dir nicht gedient? 45 Dann wird er ihnen antworten und sagen: Wahrlich, ich sage euch: Was ihr nicht getan habt einem von diesen Geringsten, das habt ihr mir auch nicht getan. 46 Und sie werden hingehen: diese zur ewigen Strafe, aber die Gerechten in das ewige Leben.

Gefühle dabei:
Wie wenn einer den Finger in eine Wunde legt
wie wenn mir einer etwas Unzumutbares zumutet
wie wenn einer meine Blöße aufdeckt.

Gedankensplitter dazu:
Nicht Gutes tun und Böses tun wird gegenübergestellt,
sondern Gutes tun und es unterlassen.
Die absolute Ahnungslosigkeit beider Gruppen,
„Wann haben wir dich…….“
Wann haben wir dich nicht…?
Dass der Gottessohn sich in den Geringsten verbirgt?
Hunger, Durst, Fremdsein, Unbekleidetsein, Krankheit und Gefangenschaft von Menschen
sind sein Hunger, sein Durst, sein Fremdsein, sein Unbekleidetsein,
seine Krankheit, seine Gefangenschaft.
Dann, Christus als Richter,
wann habe ich darüber das letzte Mal eine Predigt gehört?
Und:
Christus lässt uns wissen was kommt,
damit wir aus darauf einstellen und entsprechend verhalten.

Und schließlich fällt mir ein Gedicht von D. Bonhoeffer ein:
Menschen gehen zu Gott in ihrer Not,
flehen um Hilfe, bitten um Glück und Brot,
um Errettung aus Krankheit, Schuld und Tod.
So tun sie alle, alle, Christen und Heiden.

Menschen gehen zu Gott in Seiner Not,
finden ihn arm, geschmäht, ohne Obdach und Brot,
sehn ihn verschlungen von Sünde,
Schwachheit und Tod.

Gott geht zu allen Menschen in ihrer Not,
sättigt den Leib und die Seele mit Seinem Brot,
stirbt für Christen und Heiden den Kreuzestod
und vergibt ihnen beiden.

Dadurch angeregt entscheide ich mich,
die Predigt zu konzentrieren auf
drei Besonderheiten:
1. Sechs Aspekte von Not (des Prekariats) werden VIERMAL wiederholt:
hungrig
durstig
fremd
schutzlos
krank
gefangen
2. Die Ahnungslosigkeit der Verfluchten UND der Gesegneten
(Herr, wann und wo…?)

  • Der Höchste ist verborgen im Geringsten

Diesen drei Eigenheiten möchte ich nach-denken,
mich ihnen um sie kreisend nähern.

Fangen wir mal mit dem Verbindenden an:
Eins verbindet die Böcke und die Schafe,
eins ist gleich bei den Gesegneten und den Verfluchten
eins haben die zur Rechten und die zur Linken gemeinsam:
Sie sind dem Weltenrichter schon einmal begegnet,
wussten es aber nicht.
Der Höchste hat schon einmal ihren Weg gekreuzt,
(wann, wo, wie??? fragen alle verwundert)
im Geringsten, Superlativ von mikros im Griechischen,
ist ihnen bereits begegnet
im mikroskopisch Kleinen,
im Mickrigen und Vernachlässigbaren, Bedauernswerten.
Das haben wir nicht gewusst,
reagieren erstaunt die Gesegneten,
sich entschuldigend die Verfluchten.
Der Höchste war unter ihnen, inkognito, unerkannt,
war
hungrig
durstig
fremd
schutzlos
krank
gefangen
vor ihren Augen
auf dem Bildschirm zu sehen
in den Pflegeheimen, etwas versteckt, aber auffindbar,
verborgen in den Weggemobbten,
den in Depressionen Versinkenden,
den im Gefängnis echter Armut Leidenden
den Schutz- und Rechtslosen …
oh die Liste ist endlos…..
In all diesen Geringsten – der Höchste????
In all diesen Geringsten – der Höchste!!!!!
hungrig
durstig
fremd
schutzlos
krank
gefangen
Sind das die Merkmale Gottes?
Nicht nur allwissend, allmächtig,
sondern auch
hungrig
durstig
fremd
schutzlos
krank
gefangen????
Allmächtig und schutzlos?
Allwissend und fremd??
Gott am Kreuz?

Oh, wie der König die Geringsten dadurch aufwertet,
sie adelt, ihnen Würde verleiht.
Sein Bekenntnis ist:
Das sind die, die ich so sehr liebe,
dass ich zwischen mir und ihnen
nicht mehr unterschieden kann und will.
Sie sind mein Augapfel, die Geringsten.
Wer sie mobbt, links liegen lässt, übersieht,
der mobbt den Höchsten, lässt IHN links liegen, übersieht IHN,

IHN in Großbuchstaben geschrieben, also Vorsicht!
So schützt er sie davor, dass sie zu Objekten erniedrigt werden,
sie sind ihm das Höchste.

Sie wussten es nicht, weder die Gesegneten noch die Verfluchten.
Und das war auch gut so,
sonst hätten sie die Geringsten zum Objekt
ihrer egoistischen Fürsorge gemacht,
hätten sich an ihnen selbst gesundgestoßen
in verlogener Barmherzigkeit,
hätten sie benutzt als menschenverachtende Himmelsleiter.

Aber hatten die Gesegneten eine Ahnung, die den Verfluchten abging?
Spürten sie im Speisen der Hungrigen
im Besuchen der Kranken und Gefangenen
etwas von der Gegenwart Gottes?

Schon möglich,
dass Viele unter uns schon den Anflug einer Ahnung hatten.
Ich habe zwei Jahre lang in einem Land gearbeitet
wo es fast nur Arme gibt und wo jeder mit dem Lebensstandard
eines HartzIV-Empfängers zur Oberschicht gehört.
Gerade in diesem materiell armen Land
ist mir soviel Schönheit, Lebensfreude, Gelassenheit
und die Bereitschaft zu teilen begegnet.
Und die Älteren unter uns erzählen,
dass eben davon in den kargen Jahren nach dem letzten Krieg
auch mehr zu spüren war als heute.
Warum?
Weil Gott sich mit Armen und Schutzlosen verbündet?

Und vom Kindergottesdienst an
haben wir gelernt, dass wir uns Christen nennen,
weil wir an Christus glauben und ihn als Höchsten verehren.
Aber seitdem wissen wir auch,
dass er in einem Futtertrog geboren und am Galgen gestorben ist,
also aus sehr geringen und bedrohten Verhältnissen kam.
Erklärt das seine Sympathie für die bedrohten Geringsten?

Eine Ahnung, dass der Höchste in den Geringsten aufleuchtet
kann man schon haben.
Paulus würde weiter gehen:
Wer Christi Geist hat, der hat mehr als eine Ahnung.
Gleiches wird nur von Gleichem erkannt.
Heißt das auch, dass wenn ich selbst auf manche Weise
hungrig
durstig
fremd
schutzlos
krank und/oder
gefangen bin,
dass ich dann leichter einen Weg finde zu denGeringsten
und so dem Höchsten begegne?

Hungrig
durstig
fremd
schutzlos
krank
gefangen
Ist das Gottes irdische Adresse?
Erreicht man ihn dort?
„Dein Wille geschehe, wie im Himmel, so auf Erden“

Zur Zeit proben wir im Kirchenchor
für Gottesdienste im Advent und zu Weihnachten.
Natürlich üben wir auch das wunderbare „Machet die Tore weit“
Wer ist der König der Ehren?
Es ist der Herr stark und mächtig!
Der Herr Zebaoth, Herr der Heerscharen!
Gewaltig!

Im Licht unseres heutigen Nachdenkens könnte das auch heißen:
Wer ist der König der Ehren?
Es ist der Herr, hungrig und durstig,
der König, fremd und schutzlos,
der Höchste, krank und gefangen.
IHM macht die Tore weit!
Amen

 

Ewigkeitssonntag 1989 - Markus 13,28-37

28 An dem Feigenbaum aber lernt ein Gleichnis: Wenn jetzt seine Zweige saftig werden und Blätter treiben, so wisst ihr, dass der Sommer nahe ist. 29 Ebenso auch: wenn ihr seht, dass dies geschieht, so wisst, dass er nahe vor der Tür ist. 30 Wahrlich, ich sage euch: Dieses Geschlecht wird nicht vergehen, bis dies alles geschieht. 31 Himmel und Erde werden vergehen; meine Worte aber werden nicht vergehen. 32 Von dem Tage aber und der Stunde weiß niemand, auch die Engel im Himmel nicht, auch der Sohn nicht, sondern allein der Vater.
33 Seht euch vor, wachet! Denn ihr wisst nicht, wann die Zeit da ist. 34 Wie bei einem Menschen, der über Land zog und verließ sein Haus und gab seinen Knechten Vollmacht, einem jeden seine Arbeit, und gebot dem Türhüter, er solle wachen: 35 so wacht nun; denn ihr wisst nicht, wann der Herr des Hauses kommt, ob am Abend oder zu Mitternacht oder um den Hahnenschrei oder am Morgen, 36 damit er euch nicht schlafend finde, wenn er plötzlich kommt. 37 Was ich aber euch sage, das sage ich allen: Wachet!

Es ist Herbst, bald Winter –
aber sensible Zeitgenossen riechen den Frühling
Im Osten wird es Frühling,
in der CSR bahnt sich der zweite an.
Und im Süden entscheidet heute ein Volk,
ob es seine Armee abschaffen will.
Es ist bitter kalt –
aber mancher fühlt in allen Knochen das Ende des kalten Krieges.
Es ist der Sonntag, an dem man der Toten gedenkt -
aber wir leben und wir lieben und wir glauben,
dass der Tod nicht das letzte Wort hat.

Das alles ist,
wie wenn ein vorwitziges Blümchen sich herauswagt,
ein wenig früh, ungeschützt - eben vorwitzig und ein bisschen frech,
quer zur eigentlichen Großwetterlage.
Die ist immer noch bedrohlich.
Dem Blümlein gilt mein sympathisches hoffendes Mitzittern.
Unerträglich der Gedanke, es könnte erfrieren!
Aber deswegen die Hoffnung einfrieren?
Deswegen die Realitäts-Besserwisser-Sprüche auftauen?
Das kesse Blümlein ist mein Symbol für den Ewigkeitssonntag
und nicht der Stein auf dem Grab meiner Eltern.
Obwohl der Stein bestimmt länger hält,
der hält ewig meint der Steinmetz.
Das Blümlein aber, das hält nicht ewig,
es vergeht, so oder so, früher oder später.
Warum nicht der Stein,
warum die Blume im Schnee
als zeichenhafter Hoffnungsträger für die Ewigkeit?

Das hat mit dem heutigen Predigttext zu tun.
Der ist geprägt von Jahrzehnten der Auseinandersetzung
zwischen einem Stein und einem Blümchen,
sprich:
dem römischen Stein-Reich und dem jüdisch-christlichen Pflänzchen,
das sich hervorwagt- ein wenig vorwitzig,
aber unter einem im Leid gereiften Mut.
Das römische Weltreich - ein alles mit seiner Ordnung und Macht
niederwalzender und gleichmachender Stein.
Pax Romana - ein auf Dauer zielender Friede.
Wer dem irgendwie im Weg steht, stellt für es eine Gefahr dar,
wird niedergemacht, Tausende von Kreuzen in jener Zeit sprechen eine deutliche Sprache.
Aber sie sind auch Zeichen dafür,
dass da Menschen waren, die wie vorwitzige Blümlein
der Steinzeit und der Eiszeit der Römer
entgegenblühten‑
und untergingen.

Die Worte aus Mk. 13, die wir vorhin hörten,
gehen zurück auf einen, der in jener Zeit nicht den Stein
sondern das Blümchen vertritt.
Und er endet an einem römischen Kreuz.
Aber seine Worte werden weitererzählt,
schließlich auch im Markus-Evangelium aufgeschrieben von solchen,
die trotz schlagender Beweise römischer Steinschläge
auf das Blümlein setzen.
Denn, so werden wir in ein paar Wochen wieder singen:
Gott "hat ein Blümlein bracht,
mitten im kalten Winter,
wohl zu der halben Nacht."
Auf dies Blümlein setzten jene,
die seine Worte überlieferten.
Sie erzählten von dem Blümlein‑
mitten im Winter.
Da war kein Frühling in Sicht.
Die römische Stein- und Eiszeit schien ewigen Bestand zu haben.
und trotzdem setzten sie nicht auf den Stein,
sondern auf das vorwitzige Blümlein
und wurden selbst welche.
Mitten im kalten Winter, wohl zu der halben Nacht.

Und das ist für mich der faszinierende Unterschied
zwischen den Blumenkindern damals, zur Zeit der Römer,
und uns heute,
die wir mit den vorwitzigen Blümlein im Osten mitzittern:
Ich träume heute mit manchen unter Ihnen von einem Aufblühen
von Freiheit, GERECHTIGKEIT und Frieden,
weil sich da etwas tut,
weil da Tauwetter einsetzt,
weil da Steine aus einer festgefügten Mauer herumgereicht werden,
weil da die steinalten kalten Krieger auf die Anklagebank sollen.
Da geschieht etwas Hoffnungsvolles in der Gegenwart
und ich verlängere dies einfach sehnsüchtig in die Zukunft.
Da fallen Mauern —
und ich hoffe auf ein Ende der Steinzeit
und auf die Chance all dessen,
wofür das Blümlein steht.
Da vergehen festgefügte Reiche
und schon fällt es mir leichter von Gottes Reich zu träumen.

Aber wo waren meine Hoffnungen vom aufblühenden Frieden
in jenem heißen Herbst, als die Pershings stationiert wurden?
Und wo waren meine Träume vom Blümlein mitten im kalten Winter,
als Honecker und Breschnew regierten?
Und wo glaubte ich an die Begegnung von Getrennten,
als jeder der der Mauer auch nur nahe kam, erschossen wurde?
Damals hat mancher sensible Zeitgenosse Alpträume gehabt,
aber kaum Träume.
Apocalypse now!

Und wer mir jetzt kommt und sagt,
er habe sich nie aus der Ruhe bringen lassen,
habe nie demonstriert gegen Raketen,
habe nie gelitten an der steinernen Festgefügheit
von Unterdrückung und Menschenverachtung,
der soll sich fragen,
ob seine Ruhe eine war,
die sich aus steinaltem Fatalismus
oder wirklich aus dem Geist des Auferstandenen speiste.
(Das wollte ich auch einmal sagen)

Aber zurück:
Wo waren Ihre und meine Hoffnungen,
als alles so hoffnungslos festgefügt aussah?
Brauchen wir immer das Sichtbare,
das Ablesbare, das man im Fernsehen zeigen kann,
um einen Anstoß zu bekommen für den Glauben,
dass die Zukunft dem Blümlein und nicht dem Stein gehört?
Weil ich mir diese Frage in den letzten Tagen immer und immer wieder gestellt habe,
bin ich so fasziniert von denen,
die hinter dem heutigen Predigttext stehen:
Die brauchten nicht abzuwarten,
bis der römische Kaiser Konstantin erschien,
und im Zeichen Kreuzes zu siegen,
und dem Zeichen des Kreuzes zum Sieg zu verhelfen meinte,
nein, die waren fest überzeugt von der Zukunft des Blümleins
als noch die rolling stones Nero und Domitian herrschten.

Schon von der Glasnost Christi ausgehen,
wenn die Herren noch Nero oder Breschnew heißen,
das fasziniert mich, da wache ich auf.
Ich denke, es ist dieses Wachsein,
das hier gemeint ist:
Auch um MITTERNACHT schon ans Licht
 des neuen Morgens glauben,
Auch und gerade an Gräbern, an neuem Leben festhalten,
und vor Mauern, die Ritzen als Zeichen ihrer Vergänglichkeit zu sehen
Das hieße:
Nicht allein aus der Gegenwart auf die Zukunft schließen,
sondern von einer zugesagten Zukunft die GEGENWART deuten.
Das hieße:
Ewigkeit und Zeit so zusammenbringen,
dass die Ewigkeit das Fenster ist,
durch die wir unsere Zeit sehen - und nicht umgekehrt
Das hieße:
die Zukunft Christi jetzt und hier immer wieder unverhofft
aufleuchten zu sehen,
wo das Blümlein dem Winter vorwitzig und voller Risiko trotzt
denn da fließen Gegenwart und Zukunft,
Zeit und Ewigkeit so ineinander,
dass sie unauflöslich als erfüllte Zeit erfahren werden.

Auch wo das Blümlein wieder erfriert gilt,
 dass selbst das erfüllte Zeit sein kann,
warum hätten wir sonst als Symbol unseres Glaubens das Kreuz

Aber auf welchem Boden wachsen solche Blumen,
die sich selbst angesichts des Risikos des Scheiterns hervorwagen,
was ist der Humus der Überzeugungen,
die dem Blümlein langfristig eine echte Chance einräumen,
mitten in Stein- oder Eiszeit?
In der Lutherbibel ist die Antwort darauf fett gedruckt:
Christus spricht:
Himmel und Erde werden vergehen,
meine Worte aber werden nicht vergehen.
"In der Welt habt ihr Angst
vor dem Erfrieren der Hoffnungen,
vor dem Sieg der Kälte über die Blume,‑
ABER seid getrost, denn ich habe die Welt überwunden.
"Denn siehe ich bin bei Euch alle Tage,
bis an der Welt Ende.“

Und wenn Christi Reich kommt,
dann wird er abwischen alle Tränen von unseren Augen.
Und dies Reich, so sagt er selbst,
ist schon mitten unter uns,
da wo jetzt schon Tränen abgewischt werden,
quer zu dem, was sonst so leidvoll passiert in diese Welt.
Im Fasziniertsein von seinen Worten,
die eben nicht Schall und Rauch sind,
da blühen Blumen der Hoffnung sogar unabhängig
von der politischen oder emotionalen Großwetterlage.
Und diese Worte sind so verlässlich und so belebend,
dass Ernst Moritz Arndt es geschafft hat,
in seinem Lied "Ich weiß, woran ich glaube"
die eigentlich gegensätzlichen Symbole von Stein
und Blume zusammenzudenken,
und dieses Zusammen-denken und dieses Zusammen-glauben
von Stein und Blume wünsche ich allen,
die heute an Gräber ihrer lieben Verstorbenen gehen.
Amen

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